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FINANZSYSTEM IM DIENSTE DES GEMEINWOHLS - ECRC Partner Observatoire de la Finance, Genf, veröffentlicht ein Manifest angesichts der aktuellen Kreditkrise und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und ruft dazu auf, Kommentare und Beiträge zu veröffentlichen. Prof. Dembinski: "Das von moralischen Grundsätzen abgekoppelte Effizienzethos hat nach und nach der Habsucht Vorschub geleistet, die in immer rücksichtsloserer Art und Weise zum Ausdruck kommt."
MANIFEST DES OBSERVATOIRE DE LA FINANCE « FÜR EIN FINANZSYSTEM IM DIENSTE DES GEMEINWOHLS »

Die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten sind ungeachtet ihrer unmittelbaren Folgen systemischer Art. Sie sind Symptom des zunehmenden Drucks, der schwer auf unserem auf politischer und wirtschaftlicher Freiheit basierenden sozio-ökonomischen System lastet und dessen materielles, soziales, intellektuelles und ethisches Fundament zerbröckeln lässt. In einem kürzlich erschienenen Bericht legt das Observatoire de la Finance eine gründliche Analyse dieses Wandels vor. Wenn dieser nicht erkannt und gestoppt wird, droht die Marktwirtschaft sich in kurzer Zeit von ihrer eigentlichen Bestimmung, die Würde und das Wohl der Menschen zu fördern, abzuwenden.
Eine Gesellschaft ist niemals starr; sie ist geprägt durch die permanente und dezentrale Suche nach Arrangements, die den Herausforderungen der Zeit möglichst gut entsprechen. So ist es auch heute. Seit rund 30 Jahren hat das Finanzsystem zunehmend an Bedeutung gewonnen – nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den Köpfen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure. Dieser Prozess, bei dem neben Praktiken und Techniken auch Wertvorstellungen aus dem Finanzsektor eine immer zentralere Rolle in der Wirtschaft spielen, wird bisweilen auch als «Finanzialisierung» bezeichnet. Der erwähnte Bericht des Observatoire de la Finance ist denn auch der Analyse der vielfältigen Dimensionen dieses Prozesses gewidmet. Der Bericht zeigt auf, wie die Finanzialisierung die heutige Wirtschaft und Gesellschaft verändert, indem sie sie ganz nach der Logik der finanziellen Effizienz ausrichtet. Diese Logik wird heute auf die Spitze getrieben, wobei immer mehr auch ihre Grenzen zutage treten.

DIAGNOSE

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts machen die westlichen Staaten massenweise Rentenversprechen und Altersleistungen auf der Basis von Sparguthaben in Form von dauerhaft bestehendem Finanzkapital. Wie nachhaltig solche Versprechensgebäude sind, hängt von der Rendite der betreffenden Finanzinstrumente ab. Daneben haben sich weitere Sparformen mit ihren eigenen Renditeansprüchen entwickelt. Als Folge davon wird von der sogenannten produktiven Wirtschaft ein immer grösserer Anteil der Wertschöpfung für die Abgeltung der angelegten Sparguthaben abgezweigt.
Von diesem Druck unmittelbar betroffen sind börsennotierte Unternehmen, die ihrerseits den Druck in drei Richtungen weitergeben: an ihre Mitarbeiter in der ganzen Welt, die immer anspruchsvolleren Zielvorgaben unterliegen; an die Konsumenten, die einem immer stärkeren Innovationsdruck und immer ausgefeilteren Marketingtechniken ausgesetzt sind; sowie an die kleineren Unternehmen, im Norden wie im Süden, die als Zulieferer und Produktverteiler der grossen Unternehmen fungieren und dabei oftmals mit unhaltbaren Leistungsvorgaben konfrontiert sind. Der vom Finanzsystem ausgehende Renditedruck hat zunächst die Wirtschaft infiltriert, sich von dort auf die gesamte Gesellschaft ausgebreitet und ist bis in die Alltagskultur vorgedrungen.

Aufgrund dieser Entwicklung stehen die westlichen Gesellschaften heute vor der paradoxen Situation, dass sie ihre Freiheit verloren haben, da die Gegenwart durch selbst auferlegte finanzielle Zukunftsvorgaben eingeschränkt wird. Die «strahlende Zukunft», die von den Architekten der auf dem Kapitalisierungsprinzip basierenden Pensionssysteme und den Verfechtern des Shareholder-Values beschworen wird, erweist sich zusehends als genauso illusorisch wie die kommunistische Utopie.
Der Vormarsch der finanziellen Denkweise wurde stark durch die sie begleitende Deregulierungspolitik begünstigt sowie durch die Formalisierung der finanziellen Rationalität in Form von «Gesetzen» oder «Theoremen», die mitunter von Nobelpreisen gekrönt wurden. Die Walze des «Effizienzethos», das sich durch «erwiesene» Tatsachen scheinbar legitimieren liess, brachte moralische und ethische Bedenken nach und nach zum Verstummen.

Nach über dreissig Jahren fortschreitender Finanzialisierung befindet sich heute das Fundament des wirtschaftlichen und sozialen Systems in mehrfacher Hinsicht in einem bedenklichen Zustand. Auch die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten hängen damit zusammen: Sie sind Vorboten eines Bruches im System.
Die Finanzialisierung hat dazu geführt, dass Transaktionen fast durchwegs höher gewichtet werden als Beziehungen. Das Finanzsystem ist mittlerweile zur prägenden Kraft geworden. Das ständige Streben nach «Kapitalgewinn» und augenblicklicher Ausstiegsmöglichkeit, wie wir es von den Transaktionen kennen, wird über alles gestellt. Daneben haben Geduld, Loyalität, langfristiges Engagement und Vertrauen – Werte, auf deren Grundlage Beziehungen aufgebaut werden – an Bedeutung verloren, wodurch das Misstrauen gestiegen ist. Die Liquidität der Kapitalmärkte ist im Grunde nichts anderes als ein mechanisches Substitut für das zwischenmenschliche Vertrauen.

Das Effizienz-Ethos hat sich gegen die meisten moralischen Bedenken durchgesetzt und gilt heute als höchstes Entscheidungskriterium überhaupt. Doch wenn man diese Logik konsequent verfolgt, so führt dies zu immer ausgeklügelteren internen Prozessen und Organisationsstrukturen, welche die Aufgaben und die Verantwortlichkeiten immer feiner aufteilen – bis zu dem Punkt, wo die Arbeitstätigen den Sinn und die Bedeutung ihres Handelns aus den Augen verlieren. Diese Tendenz ist im Begriff, unter den Mitarbeitern eine allgemeine «moralische Entfremdung» nach sich zu ziehen, denn sie hören auf, sich über die blosse Entlöhnungsfrage hinaus Gedanken über Sinn und Zweck ihrer Tätigkeit zu machen.

Das von moralischen Grundsätzen abgekoppelte Effizienzethos hat nach und nach der Habsucht Vorschub geleistet, die in immer rücksichtsloserer Art und Weise zum Ausdruck kommt. Dies ist insbesondere bei der Unterwerfung der Vertrauensbeziehung unter die Bedürfnisse von Transaktionen und der Bewahrung der jederzeitigen Ausstiegsmöglichkeit der Fall. Dieser permanente Verrat und das offensichtliche Loyalitätsdefizit sind im Begriff, die wichtigste Grundlage jeder Marktwirtschaft und jeder freien Gesellschaft zu zerstören: nämlich das zwischenmenschliche Vertrauen. Der freie Markt, der sich auf das Verantwortungsbewusstsein der Beteiligten stützt, weicht heute einem Markt der Gier, welcher sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich zu einer explosionsartigen Zunahme von Kontrollen, Normen und Verfahren führt. Diese verursachen nicht nur beträchtliche Kosten, sondern beschleunigen zusätzlich die Entverantwortlichung der Beteiligten.

HANDLUNGSANSÄTZE

Die vorangehende Diagnose weist darauf hin, dass Grundwerte wie Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und Solidarität, die dem Gemeinwohl zugrunde liegen und ohne die eine freie und humane Gesellschaft nicht bestehen kann, derzeit gefährdet sind. Das Observatoire de la Finance zeigt drei Handlungsansätze auf, um dieser Situation Herr zu werden:
Es bedarf einer Kritik – im positiven Sinne des Wortes – sowohl in Bezug auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten als auch auf die moralische Bedeutung der Postulate, die der von den zeitgenössischen Wirtschaftsund Finanztheorien propagierten Weltanschauung zugrunde liegen.
Diese Überprüfung könnte dazu führen, dass das dogmatische Primat der wirtschaftlichen und finanziellen Effizienz in Zweifel gezogen und ethische Belange wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden – insbesondere jene, die das Gemeinwohl betreffen.
In allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens sind Anreize für ein nachhaltiges Handeln zu schaffen, um der Zerstörung von Beziehungen im Namen der Rendite-Abschöpfung durch unzeitige Transaktionen Einhalt zu gebieten. Es handelt sich um ein sehr weitläufiges Unterfangen, von dem zahlreiche Bereiche betroffen sind: Finanzsystem, Steuerwesen, Arbeitsverhältnisse, Raumplanung, usw.
Es müssen geeignete Methoden und Möglichkeiten geschaffen werden, um mittelfristig den Zwang, den die akkumulierten Ersparnisse und Rentenversprechen auf die Produktionstätigkeit ausüben, zu lockern.
Dazu bedarf es politischen Muts und grosser fachlicher Integrität, denn es ist damit zu rechnen, dass die beruflichen Interessen der Finanzintermediäre auf dem Spiel stehen. Schnelles Handeln ist gefordert, bevor sich die Erkenntnis breit macht, dass die auf dem Kapitalisierungsprinzip basierenden Rentenversprechen nicht gehalten werden können.

AUFRUF

Der vorangehende Text hat zum Ziel, die Menschen guten Willens aufzurütteln und auf die Gefahren aufmerksam zu machen, denen unsere wirtschaftliche und politische Freiheit ausgesetzt ist, da wir der Illusion erlegen sind, dass «private Laster» tatsächlich einen Beitrag zu «öffentlichen Tugenden» leisten können. Doch wenn die «privaten Laster» auch dem Anschein nach die wirtschaftliche Effizienz erhöhen, so bezahlen wir dafür einen hohen Preis, denn sie zerstören die Grundlagen unserer Gesellschaft: Werte wie Vertrauen, Respekt und Solidarität sind in Gefahr.
Wir müssen daher unsere Zukunft in die Hand nehmen, bevor es zu spät ist. Wir müssen aus dem (angeblich) goldenen Käfig der finanz- und versicherungsmathematischen Versprechen hinaustreten und die Tür hinter uns zuschlagen. Wir müssen die Menschen von der Illusion der Finanzlogik befreien und das Finanzsystem wieder in den Dienst der menschlichen Entfaltung und der Wahrung der Menschenwürde stellen.

Die Zeitschrift Finance & the Common Good/Bien Commun, sowie die Website des Observatoire de la Finance stehen zur Verfügung, um die in diesem Manifest dargelegten Ideen zu vertiefen und zu konkretisieren.
Senden Sie Ihre Reaktionen bitte an: manifeste@obsfin.ch.

(Zum gesamten Gutachten vgl. Dembinski, Paul H., Finance servante ou finance trompeuse ?, Rapport de l’Observatoire de la Finance, Paris, Desclée de Brouwer, März 2008, 200 Seiten (zusätzliche Informationen: www.obsfin.ch).

ID: 41180
Autor(en): UR
Erscheinungsdatum: 16.04.08
   
URL(s):

www.obsfin.ch
 

Erzeugt: 17.04.08. Letzte Änderung: 06.05.08.
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